Eines Abends liegt für einen Moment der Geruch von Schnee in der Luft. Einbildung? Die Umsetzung eines winterlichen Sehnsuchtsbildes, weil die Berge am Horizont ein erstes Schneekleid tragen? An einigen Plätzen im Garten und auf der Terrasse halten späte Nachtkerzenblüten dagegen. Von wegen Schnee! Und als sicherten sie sich und mir schon mal energisch zu, dass der nächste Sommer bereits in Arbeit ist, haben sie an vielen Stellen, manche davon sind geradezu hungerkünstlerisch mager, wunderschöne Blattrosetten gebildet. Sie sind aus einer Vielzahl in mehreren Schichten angeordneten Lanzettblättern gebaut und bekommen im fortschreitenden Herbst eine zartrote Färbung, die sich im nächsten Jahr in der Hülle der Blütenknospen wiederholen wird und die sich beim Kochen auch in der Wurzel wiederfindet. Diese zarte Verbindung eines hellsonnigen Gelbs mit einem Rot, dem man die Gelbanteile changierend ansieht, gehört in meinem Garten der Nachtkerze allein. Vielleicht tröstet sie damit uns Tagesgeschöpfe, dass die unversehrte Schönheit ihrer Blüten der Nacht vorbehalten ist. Denn die Nachtkerze öffnet ihre Blüten nach Sonnenuntergang nur für eine Nacht, am Morgen sind sie zwar noch da, aber Spuren schnellen Welkens sind unübersehbar. Das Öffnen der Blüte erfolgt innerhalb weniger Minuten in einer fließenden Bewegung. Die Schnelligkeit dieses Aufblühens lässt sich bei keiner in Mitteleuropa beheimateten Pflanzen beobachten, was die Nachtkerze als eine von mir behauptete Bewegungskünstlerin ausweist. Ihr zartgelbes Licht und ihr Duft, der sich erst etwa eine halbe Stunde nach Aufblühen entfaltet, locken nachtfliegende Insekten an.

Bei mir hat sich diese ursprünglich in den Tropen beheimatete Einwanderin ohne mein Zutun eingefunden. Auf der Terrasse im Topf zwischen Thymian und Rosmarin oder zwischen Holzboden und Topfrand, in direkter Nachbarschaft zur grüngrauhaarigen Rosette der Königskerze. Anspruchslos bis zur Kargheit. Oder auf offenen Kies- und Sandstellen, aber auch hier und da  an einer Stelle in Beet oder Wiese. Und sie zeigt sich immer wieder als Einzelgängerin, große Gesellschaften bildet sie bei mir nie, obwohl sie Tausende von Samen entwickelt – sehr zum Vergnügen kletterfreudiger Meisen, die turnend dieses Winterfutter genießen. Mag sein, dass der Magerkünstlerin einige Gartenteile zu fett sind. Immer wieder unerwartet zeigt sich ihre Blattrosette und kündigt die auf bis zu einem Meter hohen Blütenstiele fürs kommende Jahr an, die dann bis weit in den Herbst hinein Blüten hervorbringen. Für mich passen ihre schwebende Grazie und ihr zauberhaftes Licht zum September (obgleich sie mindestens von Juli bis November blüht), wenn die Nächte länger und die Übergänge schärfer werden. Sie verbindet Tag und Nacht, Ende und Neubeginn in den fließenden Übergängen einer einzigartigen Bewegung.

(Auszug aus Eva Rosenkranz: Überall ist Garten – Zufluchtsort zwischen Lebenskunst und Überleben; oekom Verlag 2019; Illustration von Ulrike Peters)

Eva Rosenkranz

Überall ist Garten

Zufluchtsort zwischen Lebenskunst und Überleben
352 Seiten, oekom verlag München, 2019
ISBN-13: 978-3-96238-107-3

Bildnachweis:

  • © Ulrike Peters
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