Der Mai ist der Aufschneider unter den Monaten des Jahres. Er protzt mit schwellenden Knospen und aufbrechender Blütenpracht, verzaubert mit verschwenderischer Duftfülle, lässt uns an heißen Tagen vom Sommer träumen und wirft sich ohne Schonung in das aufregende Geschäft des Lockens, Verführens und Fortpflanzens. Mit Charme, verwegenem Spiel und wilder Entschlossenheit erobert er unsere Herzen und Sinne im Handstreich – jedes Jahr von Neuem. Immer wieder hat der Herzensbrecher des Jahres leichtes Spiel.

Nach langen Wintermonaten und nach den oft trügerischen Hoffnungen des Vorfrühlings sind nicht nur wir süchtig nach Wärme, lauen Winden und Licht. Die Maikäfer scheinen manchmal geradezu besoffen von ihrem Monat, Meisen sausen übermütig haarscharf an der Dachkante vorbei, Spatzen fallen in sich an Plauderlust überbietenden Trupps in die Felsenbirne ein, die sich in luftig weiße Blüten gehüllt hat. Bäume und Büsche überziehen sich mit einem Grün, wie es nur im Mai zu sehen ist. Dieses helle, lichte Grün verbindet sich mit Blüten und Düften zu einem berauschenden Sinneseindruck.

Im Mai ist der Garten Verführung pur. Ohne Skrupel dockt die Natur direkt an unseren tiefsten Sehnsüchten an, mobilisiert Kindheitsbilder und Liebeslust – und passt damit perfekt zu unseren duftentwöhnten Nasen, unseren vom Grau ermüdeten Augen, überhaupt unseren gierigen Sinnen. Im Mai gerät alles aus den Fugen – äußerlich und innerlich. Den »Mozart des Kalenders« hat Erich Kästner ihn genannt.

Der Mai verleitet zu hochfliegenden Plänen. Die ersten Kübelpflanzen könnten doch schon ins Freie. Es scheint, als spürten auch sie die lockende Wärme, das strahlende Licht, die Aufregung ihrer wilden Artgenossen vor dem Fenster. Die Gärtnerin verdrängt ihre Zweifel. Wie oft war die kalte Sophie nur eine kleine Abkühlung. Eisheilige in Zeiten des Klimawandels? Aber dann kommt sie, die Nacht der Nächte. Ungnädig sinkt und sinkt das Thermometer. Schnelles Handeln ist Gebot der späten Stunde. Mancher voreilige Sommerfrischler muss wieder ins Haus, provisorisch und dreckbehaftet. Für andere wird hektisch nach Plastikfolien und leichten Decken gesucht. So abgedeckt sind die aus wärmeren Zonen Zugereisten vor dem ärgsten Frost geschützt. Morgens gilt der bange Blick zuerst den mit leichtem Reif überzogenen Pflanzen draußen. Auch den Apfelblüten könnte der späte Frost geschadet haben. Das werden wir erst im Herbst wissen. Kleinlaut trage ich nun doch wieder alles hinein und beschließe, einen Gang zurückzuschalten. Noch haben die Eisheiligen und mit ihnen die ›gefrorene‹ Erfahrung von Generationen dem Klimawandel Paroli geboten. Und der Mai hat seine dunklen, kalten Seiten bewahrt.

(Auszug aus Eva Rosenkranz: Überall ist Garten – Zufluchtsort zwischen Lebenskunst und Überleben; oekom Verlag 2019; Illustration von Ulrike Peters)

Eva Rosenkranz

Überall ist Garten

Zufluchtsort zwischen Lebenskunst und Überleben
352 Seiten, oekom verlag München, 2019
ISBN-13: 978-3-96238-107-3

Bildnachweis:

  • © Ulrike Peters
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